Mit der temporären Aufstellung von verschiedenen Gegen-Gedenktafeln in der Nähe des ehemaliges Wachturms am Schlesischen Busch widmet sich re.frau anders dem lesbischen und feministischen Aktivismus der 1980er Jahre in Ost-Berlin.

Bisher sind die Arbeit und Geschichten von Frauen, die in selbstorganisierten und lesbischen Gruppen gewirkt haben, kaum erforscht. Diese Gruppen werden weder als historische Akteur:innen in der offiziellen Geschichtsschreibung in Deutschland hinreichend thematisiert, noch in der Öffentlichkeit heutzutage ausreichend präsentiert. Verschiedene selbstorganisierte Frauengruppen bildeten sich in den 1980er Jahren, um sich für ein anderes Frauenbild und  andere Gesellschaftsformen auszusprechen und einzusetzen.

Zwischen Patriarchatskritik und Systemopposition kämpften sie u.a. für Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit. Sie setzten sich gegen die Militarisierung der Gesellschaft, Diskriminierung, Homophobie und Rassismus ein. Die unterschiedlichen Gruppen organisierten öffentliche Aktionen und Workshops, sowie Lesungen, Gespräche, Ausflüge und Feiern. Das Netzwerk wuchs durch die Organisation von überregionalen Treffen und Publikation von Zeitschriften im Selbstverlag (u.a. das “Lila Band”, “Frau Anders”, “das Netz”).

Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen wurden eingeladen, unterschiedliche Fragestellungen und Perspektiven zu diesem Thema zu reflektieren, zu besprechen und im zeitgenössischen Kontext zu thematisieren. Die Inhalte für die Tafeln wurden im Dialog mit den Beitragenden entwickelt, in verschiedenen Archiven recherchiert und in Interviews mit Zeitzeug:innen erkundet.

Mit:
Diane Izabiliza, Dior Thiam, Dominique Hurth, Franziska König-Paratore, Irène Mélix, Jessica Bock, Maria Bühner, Rike Flämig

Konzept, künstlerische und wissenschaftliche Leitung:
Dominique Hurth und Franziska König-Paratore
Grafik: Cecilia Murgia, Supernulla
Mit Unterstützung der Förderung zeitgeschichtlicher und erinnerungskultureller Projekte 2022 des Berliner Senats.




With the temporary setup of several counter-commemorative interventions near the former watchtower at Schlesischer Busch, the project “re.frau anders“ addresses lesbian and feminist activism of the 1980s in East Berlin.

Various self-organised women’s groups came together in the 1980s to speak up for different views on women and different societal structures. Between critique of the patriarchy and opposition to the oppressive system, they fought for equality and freedom of speech. They advocated against the militarisation of society, discrimination, homophobia and racism.

Until now, the work and stories of women who were active in self-organised and lesbian groups have not thoroughly been studied and investigated. These groups are neither mentioned as key actors in the official historiography, nor sufficiently presented in the public sphere.

The different groups organised public actions and workshops as well as readings, discussions, excursions and celebrations. The network grew through the organisation of cross-regional meetings and self-published zines such as “Lila Band“, “frau anders“ and “Das Netz“. Through their various activities and publications, the different groups connected with each other locally and internationally. They offered safe spaces for the exchange between women and expanded opportunities for civil and political action.Artists, historians and cultural theoreticians were invited to reflect on and discuss different questions and perspectives regarding this topic in a contemporary context. The contents for the panels were developed in dialogue with the contributors, through research in various archives and interviews with witnesses of the times.


With
Diane Izabiliza, Dior Thiam, Dominique Hurth, Franziska König-Paratore, Irène Mélix, Jessica Bock, Maria Bühner, Rike Flämig


Concept, artistic and scientific direction: Dominique Hurth and Franziska König-Paratore
Graphic Design: Cecilia Murgia, Supernulla

With the support of the grant for historical and commemorative projects 2022 of the Berlin Senate.



Teil/Part 1: 01.07-27.08.2022
Mit/With: Jessica Bock, Irène Mélix, Maria Bühner, Dominique Hurth

Das Leitmotiv der Gegen-Gedenktafel von der Historikerin Jessica Bock basiert auf der Gegenüberstellung von den Begriffen “Grenzen“ und „grenzenlos“. In Anlehnung an das lila Band der gleichnamigen Frauenzeitschrift, welche zwischen 1987 und 1989 hergestellt wurde, greift Jessica Bock die verschiedenen Facetten des Leitmotivs auf. Die ausgewählten Zitate verhandeln die folgenden Themenbereiche: Überwindung der Vereinzelung, Farbe der Frauenbewegung, Öffentlichkeit, schreiben/sprechen, Solidarität und Netzwerk. Auf diese Weise werden die unterschiedlichen Akteur*innen nichtstaatlicher Frauenbewegungen als historische Subjekte sichtbar. Zugleich erhalten die damaligen Akteur*innen die Möglichkeit direkt zu den Betrachter*innen der Tafel zu sprechen und auf diesem Wege einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu erzeugen.

Ausgangspunkt der künstlerischen Intervention von Dominique Hurth
ist die Biografie und das Werk der Künstlerin Annemirl Bauer (1939-1989) und die Fragestellung, in welchen staatlichen Sammlungen ihre Werke (ca. 16000) sich heute befinden. Die Bildnisse von Bauer stellten öfter alleinstehende Mütter, Frauen, Frauengruppen und weibliche Körper dar. Ihr Engagement für ein demokratisches Leben und ihre politische Stellungnahme gegenüber dem DDR-Regime führte zur staatlichen Beobachtung und sogar zu einem Berufsverbot Mitte der 1980er Jahre.
Ein Besuch in der graphischen Sammlung der Berlinischen Galerie, in der sich nur eine Handzeichnung (Jahr 1966) von Bauer befindet, begleitet und stützt ein von Hurth gemaltes Aquarell, das wiederum Annemirl Bauer beim Malen darstellt. Die dargestellte Malerin wurde auf Stoff neubedruckt und wirft dabei Fragen der Repräsentation von Künstlerinnen im Allgemeinen auf und folgt dabei einer feministischen Strategie des Tradierens von und über Frauen-Vorbilder.

Ein Archivfoto der Lesben in der Kirche steht im Mittelpunkt der Gegen-Gedenktafel von der Künstlerin Irène Mélix und der Kulturwissenschaftlerin Maria Bühner. Die Silhouette einer Frau wurde übernommen, wobei der Körper im Negativ dargestellt wird, der wiederum einen Schatten wirft. Mélix und Bühner hinterfragen dabei verschiedene Formen des Sichtbarmachens. Die QR Codes laden die Betrachter*innen ein, in einem Interview mit der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Peggy Piesche und einem Hörstück von Ernest Ah, Sabrina Saase und Lee Stevens, weitere Geschichten und Fragen zum Umgang mit Rassismus zu reflektieren. Auf diese Weise wird die Vielschichtigkeit des heutigen Umgangs mit der Vergangenheit erfahrbar gemacht.



The leitmotif of the counter-memorial panel by historian Jessica Bock is based on the juxtaposition of the terms „borders“ and „borderless“. In reference to the purple ribbon of the women‘s magazine of the same name, which was produced between 1987 and 1989, Jessica Bock takes up the various facets of the leitmotif. The selected quotations deal with the following themes: Overcoming Isolation, Colour of the Women‘s Movement, Publicity, Writing/Speaking, Solidarity and Networking. In this way, the different actors of non-state women‘s movements become visible as historical subjects. At the same time, the actors of the time are given the opportunity to speak directly to the viewers of the panel, thus creating a dialogue between the past and the present.

The starting point of Dominique Hurth‘s artistic intervention is the biography and oeuvre of the artist Annemirl Bauer (1939-1989) and the question in which state collections her works (approx. 16,000) can be found today. Bauer‘s paintings often depicted single mothers, women, groups of women and female bodies. Her commitment to a democratic life and her political statement against the GDR regime led to state observation and even a professional ban in the mid-1980s.
A visit to the graphic collection of the Berlinische Galerie, which contains only one hand drawing (year 1966) by Bauer, accompanies and supports a watercolour painted by Hurth, which in turn depicts Annemirl Bauer painting. The depicted painter has been reprinted on fabric, raising questions about the representation of women artists in general and following a feminist strategy of passing on and talking about women role models.

An archive photo of „Lesbians in the Church“ is the focus of the counter-memorial panel by artist Irène Mélix and cultural scientist Maria Bühner. The silhouette of a woman has been taken over, with the body shown in negative, which in turn casts a shadow. In doing so, Mélix and Bühner question various forms of making things visible. The QR codes invite the viewers to reflect on further stories and questions about dealing with racism in an interview with the literary and cultural scholar Peggy Piesche and a radio play by Ernest Ah, Sabrina Saase and Lee
Stevens. In this way, the complexity of dealing with the past today is made tangible.
Pictures: Dominique Hurth, 2022

Teil/Part 2: 02.09.2022 - 29.10.2022
Mit/With: Rike Flämig, Diane Izabiliza, Franziska König-Paratore, Dior Thiam





Die Filmemacherin und Autorin Diane Izabiliza beginnt auf ihrer Gegen-Gedenktafel einen Dialog – einen Dialog mit Zeitzeuginnen, Autorinnen, sich selbst und Betrachter*innen. Durch Reflektionen und Fragen setzt sie sich mit den Erfahrungen von Frauen of Colour, struktureller Diskriminierung und Rassismus sowie der Rolle von Frauen of Colour im Widerstand in der DDR auseinander. Zudem entwickelt sie Thesen zur Wirkung von öffentlichen Debatten über Rassismus, die nach wie vor die Gegenwart berühren und hohe Relevanz besitzen. Auf diese Weise beleuchtet sie auch die Bedeutung von bewegungspolitischen Zusammenschlüssen von BIPOC um 1989 und während der 1990er Jahre in Deutschland. Dianes Reflektionen sind während ihrer Recherche für die Gegen-Gedenktafel entstanden und flechten verschiedene Texte, Bilder und Dokumente zusammen sowie Begleitreferenzen, u.a. die Gedichte und Zeichnungen von Raja Lubinetzki oder von der Dichterin May Ayim.

In ihrer digitalen Collage stellt die Künstlerin Dior Thiam Ausschnitte und Bilder aus Filmen, Dokumentationen und Archiven als eine Art assoziatives Mapping zusammen. In ihrer Recherche suchte sie nach möglichen Spuren marginalisierter Menschen in der Erzählung der DDR und der Frauenbewegung der 1980er Jahre, und speziell nach deren Verortung im Stadtbild. Wichtig dabei waren für sie folgende Fragen: Wie wird die Wendezeit von Menschen of Colour in Deutschland erinnert? Welche Erzählung/en wurden untereinander weitergetragen? Welche Erinnerungen wurden explizit und implizit an die nächste Generation vermittelt? Wie hat sich eine verharmloste und somit unbehandelte Gewaltgeschichte in die Berliner Stadtgeschichte eingeschrieben?

Die Kultursoziologin Franziska König-Paratore zitiert einen Auszug aus Samirah Kenawis Bericht zur Gründung des „Unabhängigen Frauenverbandes“ (UFV) am 3. Dezember 1989. Der Bericht wurde in der ersten Ausgabe im Jahr 1990 von frau anders veröffentlicht und erzählt u.a. von der Beteiligung des UFVs am Runden Tisch am 7. Dezember 1989. Der Abdruck des Textauszuges aus frau anders verdeutlicht die zentrale Rolle von Samisdatausgaben als Medium des Informationsaustausches für die unabhängigen Frauenbewegungen und ihres Aktivismus, vor allem während und kurz nach den Umbrüchen von 1989 in Deutschland. Zudem wird die Gegen-Gedenktafel genutzt, um das Bewusstsein für Ereignisse und die dazugehörigen Zeitpunkte, wie den 03.12.1989 oder 07.12.1989, zu schärfen und im öffentlichen Stadtraum zu überliefern. Die andere Seite zeigt zwei Plakate (von der Illustratorin und Comiczeichnerin Anke Feuchtenberger) und verdeutlicht die Selbstdarstellung des UFVs in der Öffentlichkeit um 1990 und unterstreicht die multimedialen and transdisziplinären Ansätze der unterschiedlichen Frauengruppen und -initiativen, die sich 1989 aus Ost- und West-Berlin zusammengeschlossen haben.

Rike Flämig nimmt mit ihrer künstlerischen Intervention Bezug auf die Arbeit der Tänzerin und Choreografin Fine Kwiatkowski (Jahrgang 1956, DDR). Unangepasst und transdisziplinär arbeitend vermittelt Fines Performancekunst und Werdegang das Erobern von Freiräumen. Rike zitiert und beschäftigt sich mit der Fotografie einer Performance von 1985 an, in der Fines Körper zu sehen ist, ganz in der feministischen Tradition des Referenzierens und des Weitertradierens von Künstlerinnen. Sie verbindet ihre Arbeit mit einer Art zeichnerischer Fußnote, einer Mental Map, einer Karte. Dabei blickt sie auf ihre eigene performative Entwicklung, auch geprägt von DDR-Realität. Ihr Wohnort, von 1978 bis 1985 in Leipzig, lag nur ein paar Häuser entfernt von dem Ort, wo zahlreiche transdisziplinäre Improvisationstreffen stattfanden: in der naTo (Klubhaus der Nationalen Front), wo im Juni 1984 die erste Version der Mediencollage Herakles (da noch unter dem Titel: La Sarraz) von Lutz Dammbeck mit Fine Kwiatkowski aufgeführt wurde. Zugleich war dieser Ort wenige Straßen von der zentralen Hinrichtungsstätte der DDR entfernt. Rikes Performance am ehemaligen DDR-Wachturm im Schlesischen Busch (am 02.09.2022) fordert die Betrachter*innen heraus, die herkömmlichen Gedenktafeln entlang des ehemaligen Mauerwegs als Gegenbild zu den ausgestellten Gegen-Gedenktafeln wahrzunehmen.  


Picture Above: Dante Busquets, 2022 - all the others: Dominique Hurth, 2022
The filmmaker and author Diane Izabiliza begins a dialogue on her counter-memorial panel - a dialogue with contemporary witnesses, authors, herself and the viewers. Through reflections and questions, she deals with the experiences of women of colour, structural discrimination, and racism as well as the role of women of colour in the opposition in East Germany. In addition, she develops theses on the impact of public debates about racism, which are still highly relevant today. In this way, she also highlights the significance of political movements and associations of BIPOC around 1989 and during the 1990s in Germany. Diane‘s thoughts were brought together during her research for the counter-panel and weave together various texts, images and documents as well as accompanying references, including the poems and drawings of Raja Lubinetzki or the poems of May Ayim.

In her digital collage, the artist Dior Thiam places excerpts and details from films, documentaries, and archives as a kind of associative mapping. In her research, she looked for possible traces of marginalised people in the narrative of the GDR and the women‘s movement of the 1980s, and specifically within the cityscape. The following questions were important to her: How is the period of 1980-1991 remembered by people of colour in Germany? Which narrative(s) were passed on to each other? Which memories were explicitly and implicitly passed on to the next generation? How did a trivialised and thus untreated history of violence inscribe itself in Berlin‘s urban history?

Cultural sociologist Franziska König-Paratore quotes an excerpt from Samirah Kenawi‘s report on the founding of the „Independent Women‘s Association“ (UFV) on 3 December 1989. The report was published in the first issue in 1990 of frau anders and tells the story, among other things, of the UFV‘s participation in the Round Table on 7 December 1989.
The reprint of the text excerpt from frau anders illustrates the central role of samizdat issues as a medium of information and exchange for the independent women‘s movements and their activism, especially during and shortly after the upheavals of 1989 in Germany. In addition, the counter-panel is used to raise awareness of events and their corresponding dates, such as the 3rd of December 1989 or the 7th of December 1989, and to convey them in a public urban space. The other side shows two posters (from the illustrator and comic artist Anke Feuchtenberger) and illustrates the self-presentation of the UFV in the public realm around 1990 and underlines the multimedia and transdisciplinary approaches of the different women‘s groups and initiatives that joined forces from East and West Berlin in 1989.

Rike Flämig‘s artistic intervention refers to the work of the dancer and choreographer Fine Kwiatkowski (born 1956, GDR). Working in an unconventional and transdisciplinary way, Fine‘s performance art and career convey the conquest of free spaces. Rike cites and engages with a photograph of a performance from 1985 that features Fine‘s body, in the feminist tradition of referencing and passing on artists‘ work. She combines her work with a kind of graphic footnote, a mental map, a cartography. In doing so, she looks at her own performative development, also shaped by GDR reality. Her place of residence, Leipzig from 1978 to 1985, was only a few houses away from the place where numerous transdisciplinary improvisation meetings took place: in the naTo (Klubhaus der Nationalen Front), where in June 1984 the first version of the media collage Herakles (then still under the title: La Sarraz) by Lutz Dammbeck with Fine Kwiatkowski was performed. At the same time, this place was a few streets away from the central execution site of the GDR. Rike‘s performance at the former GDR watchtower in Schlesischer Busch (on 02.09.2022) challenges the viewer to perceive the conventional memorial panels along the former path of the Berlin Wall as a counter-image to the counter-memorial plaques on display.